Vortragstext: Deutsche Hegemonie in Mittelosteuropa
konicz.substack.com
Diesen Vortrag hielt ich am 4.6.2011 in Göttingen. Erlaubt mir, eingangs ein paar Sätze zur Struktur meines Referats zu verlieren. Der Vortrag ist in zwei Themenbereiche gegliedert, einen ökonomischen und anschließend einen geopolitischen. Zunächst werde ich die sozioökonomische Stellung Osteuropas etwas genauer darlegen, wie auch die Zurichtung dieser Region zur Peripherie des westeuropäischen Zentrums schildern. Hier soll dann auch die dominante Stellung deutschen Kapitals innerhalb der Volkswirtschaften Osteuropas dargelegt werden. Im anschließenden zweiten Teil meines Referats werde ich mich mit den geopolitischen Konstellationen in der Region befassen. Zunächst soll die geopolitische Ausrichtung der östlichen Peripherie der EU dargelegt werden. Schließlich sollen auch die wichtigsten Konfliktfelder in der Region benannt werden. Zurichtung Peripherie Kommen wir nun zum ersten Teil meiner Ausführungen. Vielleicht sollten wir eingangs noch eine kurze geographische Bestimmung des Gebiets durchführen, dass Thema dieses Referats ist. Wenn ich von Mittelosteuropa spreche, dann meine ich damit die Länder, die in zwei Erweiterungsschüben der Europäischen Union in 2004 und 2007 beitreten konnten. Dieses „Zwischeneuropa“ Erstreckt sich vom Baltikum bis zum schwarzen Meer, es trennt die europäischen Hegemonialmacht Deutschland von der russischen Einflusssphäre, die ja im Westen Belarus und die Ukraine umfasst. Diese Definition von Mittelosteuropa umfasst also die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Slowenien. Es ist innerhalb der westeuropäischen Linken wohlbekannt, dass dieses Mittelosteuropa nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einer Peripherie des westeuropäischen Zentrums zugerichtet wurde. Hierunter ist in einem umfassenden Sinne die Umformung dieser osteuropäischen Ökonomien entlang der Verwertungsinteressen westeuropäischen Kapitals zu verstehen. Bevor diese ehemals staatssozialistischen Volkswirtschaften der Europäischen Union als scheinbar gleichberechtigte Mitglieder beitreten konnten, wurden sie jeglicher eigenständiger ökonomischer Potenzen beraubt. Dies geschah vermittels einer Enteignung dieser Volkswirtschaften, die zumeist unter dem Stichwort der Schocktherapie zusammengefasst wird. Während der Systemtransformation fand eine Deindustrielisierungs- und Enteignungswelle der gesamten industriellen Basis dieser Länder statt. Diese zerstörerische Dynamik wurde durch eine schockartige Öffnung der osteuropäischen Binnenmärkte erreicht. Hierdurch konnten die maroden osteuropäschen Unternehmen binnen kürzester Zeit niederkonkurriert werden. Die interessantesten Filetstücke aus der Konkursmasse des Staatssozialismus wurden hingegen vom westlichem Kapital übernommen. Als Beispiele seien hier die tschechischen Skoda-Werke, der polnische Süßwarenhersteller Wedel oder der rumänische Fahrzeughersteller Dacia genannt. Im Endeffekt wurden nahezu alle osteuropäischen Volkswirtschaften eines eigenständigen ökonomischen Rückgrats – also eines im heimischen Besitz be?ndlichen Industriesektors – beraubt. Fast alle wichtigen Unternehmen in nahezu allen osteuropäischen Staaten be?nden sich im Besitz westlicher Industriekonzerne. Es fand also de facto eine Deindustrialisierung dieser Region statt, die mit dem Verlust jeglicher autarken technologischen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten einherging. Stattdessen konnten europäische Konzerne die gesamte Region sukzessive zu einer „verlängerten Werkbank“ umformen. Weite Teile Osteuropas verkamen zu einem Billiglohnstandort. Einerseits konnte also westliches Kapital Osteuropa als Absatzmarkt gewinnen, indem die heimische Konkurrenz noch in der Transformationsphase vernichtet werden konnte, andererseits fungierte die Region als Investitionsstandort, bei dem die besten Betriebe übernommen und arbeitsintensive Produktionsschritte ausgelagert werden konnten. Die enormen sozialen Verwerfungen, die diese Transformationsprogramme mit sich brachte, bildeten einen integralen und beabsichtigten Teil der Zurichtung Osteuropas zur Peripherie. Erst mit zunehmender Verelendung und Massenarbeitslosigkeit konnte diese Region zu einem Billiglohnstandort westlicher Konzerne degradiert werden. Zudem strahlen die Hungerlöhne in Osteuropa auch auf den Westen aus, was ja zu der massiven Senkung des Lohnniveaus insbesondere in Deutschland beigetragen haben dürfte. (Stichwort: Debatte um Arbeitsplatzverlagerung) Merkwürdigerweise konnte Osteuropa bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine immer wichtigere Rolle als Absatzmarkt spielen – vor allem für die exportfixierte deutsche Industrie. Dies muss auf den ersten Blick angesichts der beschriebenen Entwicklung verwundern. Wie konnte eine Region, die zumeist als Billiglohnstandort westlichen Kapitals fungiert, zu einem solch wichtigen Absatzmarkt avancieren? Die Lösung dieses Rätsels liegt im Finanzsektor der osteuropäischen Staaten, der ebenfalls nahezu geschlossen vom westlichen Finanzkapital übernommen wurde. Mit der Zeit gingen die westeuropäischen Finanzhäuser zu einer immer lockereren Kreditvergabepraxis über. Die Konsumenten und Häuslebauer in Osteuropa kamen so immer leichter an Kredite und Hypotheken - dieses Geld floss dann in den Konsum und den Bausektor. Es bildete sich in Osteuropa eine klassische De?zitkonjunktur heraus, bei der das Anhäufen von Defiziten (Krediten oder Hypotheken für Konsum oder Häuserbau) konjunkturbelebend wirkt, da hierdurch ja tatsächlich schulden?nanzierte Nachfrage geschaffen wurde. Dieses ökonomische Perpetuum mobile bewirkte wahre Wunder: Bis zum Zusammenbruch dieser De?zitkonjunktur konnten Lohnabhängige, die von westlichen Industriekonzernen mit Hungerlöhnen abgespeist wurden, dank der Kredite westlicher Finanzkonzerne ein beachtliches Konsumniveau halten. Dieser schulden?nanzierte Turmbau zu Babel erreichte enorme Dimensionen: Die EU-Geldhäuser haben sich mit insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar (ca. 1150 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzmeer engagiert. Stark exponiert sind Finanzinstitute aus Italien, Frankreich, Schweden, Deutschland und insbesondere Österreich. Letztere haben in Osteuropa beispielsweise Kredite in Höhe von 224 Milliarden Euro vergeben, was in etwa drei Vierteln der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs entspricht. In der osteuropäischen Peripherie der EU etablierte sich schließlich mit dieser De?zitkonjunktur auch ein De?zitkreislauf. Bei diesem De?zitkreislauf wurde die vom westlichen Finanzkapital per Kreditvergabe generierte Kaufkraft, wiederum vom westlichen Handelskapital abgeschöpft. Denn selbstverständlich ist der osteuropäische Groß- und Einzelhandel längst von westeuropäischen Konzernen – von Lidl, Tesco, der Metrogruppe oder Plus – beherrscht. Somit ?ießt das von westlichen Großbanken geliehene Geld wieder in den Westen. In Osteuropa verblieben natürlich die Kredite mit variablen Zinsen, die dekadenlang abgestottert werden müssen. Erst unter Berücksichtigung dieser „doppelten“ ökonomischen Marginalisierung Osteuropas – in dem warenproduzierenden Sektor wie in der Finanzsphäre – erschließt sich das ganze Ausmaß der peripheren Stellung dieser Region innerhalb der Europäischen Union.
Vortragstext: Deutsche Hegemonie in Mittelosteuropa
Vortragstext: Deutsche Hegemonie in…
Vortragstext: Deutsche Hegemonie in Mittelosteuropa
Diesen Vortrag hielt ich am 4.6.2011 in Göttingen. Erlaubt mir, eingangs ein paar Sätze zur Struktur meines Referats zu verlieren. Der Vortrag ist in zwei Themenbereiche gegliedert, einen ökonomischen und anschließend einen geopolitischen. Zunächst werde ich die sozioökonomische Stellung Osteuropas etwas genauer darlegen, wie auch die Zurichtung dieser Region zur Peripherie des westeuropäischen Zentrums schildern. Hier soll dann auch die dominante Stellung deutschen Kapitals innerhalb der Volkswirtschaften Osteuropas dargelegt werden. Im anschließenden zweiten Teil meines Referats werde ich mich mit den geopolitischen Konstellationen in der Region befassen. Zunächst soll die geopolitische Ausrichtung der östlichen Peripherie der EU dargelegt werden. Schließlich sollen auch die wichtigsten Konfliktfelder in der Region benannt werden. Zurichtung Peripherie Kommen wir nun zum ersten Teil meiner Ausführungen. Vielleicht sollten wir eingangs noch eine kurze geographische Bestimmung des Gebiets durchführen, dass Thema dieses Referats ist. Wenn ich von Mittelosteuropa spreche, dann meine ich damit die Länder, die in zwei Erweiterungsschüben der Europäischen Union in 2004 und 2007 beitreten konnten. Dieses „Zwischeneuropa“ Erstreckt sich vom Baltikum bis zum schwarzen Meer, es trennt die europäischen Hegemonialmacht Deutschland von der russischen Einflusssphäre, die ja im Westen Belarus und die Ukraine umfasst. Diese Definition von Mittelosteuropa umfasst also die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Slowenien. Es ist innerhalb der westeuropäischen Linken wohlbekannt, dass dieses Mittelosteuropa nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einer Peripherie des westeuropäischen Zentrums zugerichtet wurde. Hierunter ist in einem umfassenden Sinne die Umformung dieser osteuropäischen Ökonomien entlang der Verwertungsinteressen westeuropäischen Kapitals zu verstehen. Bevor diese ehemals staatssozialistischen Volkswirtschaften der Europäischen Union als scheinbar gleichberechtigte Mitglieder beitreten konnten, wurden sie jeglicher eigenständiger ökonomischer Potenzen beraubt. Dies geschah vermittels einer Enteignung dieser Volkswirtschaften, die zumeist unter dem Stichwort der Schocktherapie zusammengefasst wird. Während der Systemtransformation fand eine Deindustrielisierungs- und Enteignungswelle der gesamten industriellen Basis dieser Länder statt. Diese zerstörerische Dynamik wurde durch eine schockartige Öffnung der osteuropäischen Binnenmärkte erreicht. Hierdurch konnten die maroden osteuropäschen Unternehmen binnen kürzester Zeit niederkonkurriert werden. Die interessantesten Filetstücke aus der Konkursmasse des Staatssozialismus wurden hingegen vom westlichem Kapital übernommen. Als Beispiele seien hier die tschechischen Skoda-Werke, der polnische Süßwarenhersteller Wedel oder der rumänische Fahrzeughersteller Dacia genannt. Im Endeffekt wurden nahezu alle osteuropäischen Volkswirtschaften eines eigenständigen ökonomischen Rückgrats – also eines im heimischen Besitz be?ndlichen Industriesektors – beraubt. Fast alle wichtigen Unternehmen in nahezu allen osteuropäischen Staaten be?nden sich im Besitz westlicher Industriekonzerne. Es fand also de facto eine Deindustrialisierung dieser Region statt, die mit dem Verlust jeglicher autarken technologischen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten einherging. Stattdessen konnten europäische Konzerne die gesamte Region sukzessive zu einer „verlängerten Werkbank“ umformen. Weite Teile Osteuropas verkamen zu einem Billiglohnstandort. Einerseits konnte also westliches Kapital Osteuropa als Absatzmarkt gewinnen, indem die heimische Konkurrenz noch in der Transformationsphase vernichtet werden konnte, andererseits fungierte die Region als Investitionsstandort, bei dem die besten Betriebe übernommen und arbeitsintensive Produktionsschritte ausgelagert werden konnten. Die enormen sozialen Verwerfungen, die diese Transformationsprogramme mit sich brachte, bildeten einen integralen und beabsichtigten Teil der Zurichtung Osteuropas zur Peripherie. Erst mit zunehmender Verelendung und Massenarbeitslosigkeit konnte diese Region zu einem Billiglohnstandort westlicher Konzerne degradiert werden. Zudem strahlen die Hungerlöhne in Osteuropa auch auf den Westen aus, was ja zu der massiven Senkung des Lohnniveaus insbesondere in Deutschland beigetragen haben dürfte. (Stichwort: Debatte um Arbeitsplatzverlagerung) Merkwürdigerweise konnte Osteuropa bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine immer wichtigere Rolle als Absatzmarkt spielen – vor allem für die exportfixierte deutsche Industrie. Dies muss auf den ersten Blick angesichts der beschriebenen Entwicklung verwundern. Wie konnte eine Region, die zumeist als Billiglohnstandort westlichen Kapitals fungiert, zu einem solch wichtigen Absatzmarkt avancieren? Die Lösung dieses Rätsels liegt im Finanzsektor der osteuropäischen Staaten, der ebenfalls nahezu geschlossen vom westlichen Finanzkapital übernommen wurde. Mit der Zeit gingen die westeuropäischen Finanzhäuser zu einer immer lockereren Kreditvergabepraxis über. Die Konsumenten und Häuslebauer in Osteuropa kamen so immer leichter an Kredite und Hypotheken - dieses Geld floss dann in den Konsum und den Bausektor. Es bildete sich in Osteuropa eine klassische De?zitkonjunktur heraus, bei der das Anhäufen von Defiziten (Krediten oder Hypotheken für Konsum oder Häuserbau) konjunkturbelebend wirkt, da hierdurch ja tatsächlich schulden?nanzierte Nachfrage geschaffen wurde. Dieses ökonomische Perpetuum mobile bewirkte wahre Wunder: Bis zum Zusammenbruch dieser De?zitkonjunktur konnten Lohnabhängige, die von westlichen Industriekonzernen mit Hungerlöhnen abgespeist wurden, dank der Kredite westlicher Finanzkonzerne ein beachtliches Konsumniveau halten. Dieser schulden?nanzierte Turmbau zu Babel erreichte enorme Dimensionen: Die EU-Geldhäuser haben sich mit insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar (ca. 1150 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzmeer engagiert. Stark exponiert sind Finanzinstitute aus Italien, Frankreich, Schweden, Deutschland und insbesondere Österreich. Letztere haben in Osteuropa beispielsweise Kredite in Höhe von 224 Milliarden Euro vergeben, was in etwa drei Vierteln der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs entspricht. In der osteuropäischen Peripherie der EU etablierte sich schließlich mit dieser De?zitkonjunktur auch ein De?zitkreislauf. Bei diesem De?zitkreislauf wurde die vom westlichen Finanzkapital per Kreditvergabe generierte Kaufkraft, wiederum vom westlichen Handelskapital abgeschöpft. Denn selbstverständlich ist der osteuropäische Groß- und Einzelhandel längst von westeuropäischen Konzernen – von Lidl, Tesco, der Metrogruppe oder Plus – beherrscht. Somit ?ießt das von westlichen Großbanken geliehene Geld wieder in den Westen. In Osteuropa verblieben natürlich die Kredite mit variablen Zinsen, die dekadenlang abgestottert werden müssen. Erst unter Berücksichtigung dieser „doppelten“ ökonomischen Marginalisierung Osteuropas – in dem warenproduzierenden Sektor wie in der Finanzsphäre – erschließt sich das ganze Ausmaß der peripheren Stellung dieser Region innerhalb der Europäischen Union.