Dieses Referat habe ich am 30.05.2011 in Göttingen gehalten. Es steht allen Interessierten zur freien Verfügung. Ich möchte eingangs meines Referats knapp dessen Struktur erläutern. Ich habe den Vortrag in zwei Teile gegliedert. Zuerst möchte ich die sozioökonomischen Rahmenbedingungen in Mittelosteuropas umreißen und den Krisenverlauf in der Region schildern. Die knappe Darstellung des Krisenverlaufs soll vor allem einen differenzierten Blick auf diese mittelosteuropäischen Länder ermöglichen, da die Krise hier sehr unterschiedliche Verlaufsformen annahm. Im zweiten Teil werde ich mich bemühen, die wichtigsten politischen und allgemein die sozialen Reaktionen auf das Krisengeschehen in Osteuropa darzulegen. Besonderes Augenmerk wird hier auf den Aufstieg der Rechten in dieser Region gelegt werden, der sich in Wahlerfolgen wie auch zunehmender Militanz gegenüber Minderheiten und politischen Gegnern äußert. Der Schwerpunkt dieses zweiten Teils wird auf der Situation in Ungarn, wie auch auf dem militanten Antiziganismus liegen, der in weiten Teilen Mittelosteuropas inzwischen konsensartigen Charakter angenommen hat. Kommen wir nun zum ersten Teil meiner Ausführungen. Vielleicht sollten wir eingangs noch eine kurze geographische Bestimmung des Gebiets durchführen, dass Thema dieses Referats ist. Wenn ich von Mittelosteuropa spreche, dann meine ich damit die Länder, die in zwei Erweiterungsschüben der Europäischen Union in 2004 und 2007 beitreten konnten. Dieses „Zwischeneuropa“ Erstreckt sich vom Baltikum bis zum schwarzen Meer, es trennt die europäischen Hegemonialmacht Deutschland von der russischen Einflusssphäre, die ja im Westen Belarus und die Ukraine umfasst. Diese Definition von Mittelosteuropa umfasst also die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Slowenien. Es ist ja kein großes Geheimnis, und es ist auch innerhalb der westeuropäischen Linken wohlbekannt, dass dieses Mittelosteuropa nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einer Peripherie des westeuropäischen Zentrums zugerichtet wurde. Hierunter ist in einem umfassenden Sinne die Umformung dieser osteuropäischen Ökonomien entlang der Verwertungsinteressen westeuropäischen Kapitals zu verstehen. Bevor diese ehemals staatssozialistischen Volkswirtschaften der Europäischen Union als scheinbar gleichberechtigte Mitglieder beitreten konnten, wurden sie jeglicher eigenständiger ökonomischer Potenzen beraubt. Dies geschah vermittels einer doppelten Enteignung dieser Volkswirtschaften, die zumeist unter dem Stichwort der Schocktherapie zusammengefasst wird. Zum einen fand bei der Systemtransformation eine Vernichtung der breit verteilten Ersparnisse in Geldform statt. Nach der totalen Preisfreigabe ab 1990 setzte in nahezu allen osteuropäischen Transformationsstaaten eine Hyperin?ation ein. Diese zerstörte einen Großteil der Ersparnisse der Lohnabhängigen, was de facto zu deren Enteignung führte. Im Gefolge dieser Entwertungswelle konnten dann die Währungen der osteuropäischen Länder an den US-Dollar oder die D-Mark gekoppelt werden, was die Grundlage der Investitionstätigkeit westlichen Kapitals in diesen Volkswirtschaften bildete. Neben dieser Enteignung der Lohnabhängigen mittels ausufernder Inflation fand auch eine Enteignungswelle der gesamten industriellen Basis dieser Länder auf volkswirtschaftlicher Ebene statt. Diese zweite Enteignung wurde durch eine schockartige Öffnung der osteuropäischen Binnenmärkte erreicht. Hierdurch konnten die maroden osteuropäschen Unternehmen binnen kürzester Zeit niederkonkurriert werden. Die interessantesten Filetstücke aus der Konkursmasse des Staatssozialismus wurden hingegen vom westlichem Kapital übernommen. Als Beispiele seien hier die tschechischen Skoda-Werke, der polnische Süßwarenhersteller Wedel oder der rumänische Fahrzeughersteller Dacia genannt. Im Endeffekt wurden nahezu alle osteuropäischen Volkswirtschaften eines eigenständigen ökonomischen Rückgrats – also eines im heimischen Besitz be?ndlichen Industriesektors – beraubt. Fast alle wichtigen Unternehmen in nahezu allen osteuropäischen Staaten be?nden sich im Besitz westlicher Industriekonzerne. Es fand also de facto eine Deindustrialisierung dieser Region statt, die mit dem Verlust jeglicher autarken technologischen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten einherging. Stattdessen konnten europäische Konzerne die gesamte Region sukzessive zu einer „verlängerten Werkbank“ umformen. Die noch in der Periode des real existierenden Sozialismus gut ausgebildete Arbeiterschaft, die sich einem massiven Verelendungsschub ausgesetzt sah, war prädestiniert dafür, die arbeitsintensiven Produktionsschritte innerhalb der globalen Fertigungsabläufe westlicher Konzerne für einen Hungerlohn zu übernehmen. Weite Teile Osteuropas verkamen so zu einem Billiglohnstandort. Einerseits konnte also westliches Kapital Osteuropa als Absatzmarkt gewinnen, indem die heimische Konkurrenz noch in der Transformationsphase vernichtet werden konnte, andererseits fungierte die Region als Investitionsstandort, bei dem die besten Betriebe übernommen und arbeitsintensive Produktionsschritte ausgelagert werden konnten. Die enormen sozialen Verwerfungen, die diese Transformationsprogramme mit sich brachte, bildeten einen integralen und beabsichtigten Teil der Zurichtung Osteuropas zur Peripherie. Erst mit zunehmender Verelendung und Massenarbeitslosigkeit konnte diese Regione zu einem Billiglohnstandort westlicher Konzerne degradiert werden. Mit jedem weiteren Verelendungsschub wurde die Verhandlungsposition von Gewerkschaften in der Region sukzessive geschwächt. Krise in Osteuropa, Differenzierung, Defizitkreisläufe Ironischerweise konnte Osteuropa bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine immer wichtigere Rolle als Absatzmarkt spielen – vor allem für die exportfixierte deutsche Industrie. Die Länder Ostmitteleuropas und Osteuropas haben im ersten Halbjahr 2008 für 84 Milliarden Euro deutsche Waren aufgenommen. Diese Region war am Vorabend der Weltwirtschaftskrise somit für die deutsche Exportwirtschaft wichtiger als die USA (59,2 Milliarden Euro) oder China (43,6 Milliarden Euro). Dies muss auf den ersten Blick angesichts der beschriebenen Entwicklung verwundern. Wie konnte eine Region, die zumeist als Billiglohnstandort westlichen Kapitals fungiert, zu einem solch wichtigen Absatzmarkt avancieren? Die Lösung dieses Rätsels liegt im Finanzsektor der osteuropäischen Staaten, der ebenfalls nahezu geschlossen vom westlichen Finanzkapital übernommen wurde. Mit der Zeit gingen die westeuropäischen Finanzhäuser zu einer immer lockereren Kreditvergabepraxis über. Die Konsumenten und Häuslebauer in Osteuropa kamen so immer leichter an Kredite und Hypotheken - dieses Geld floss dann in den Konsum und den Bausektor. Es bildete sich in Osteuropa eine klassische De?zitkonjunktur heraus, bei der das Anhäufen von Defiziten (Krediten oder Hypotheken für Konsum oder Häuserbau) konjunkturbelebend wirkt, da hierdurch ja tatsächlich schulden?nanzierte Nachfrage geschaffen wurde. Dieses ökonomische Perpetuum mobile bewirkte wahre Wunder: Bis zum Zusammenbruch dieser De?zitkonjunktur konnten Lohnabhängige, die von westlichen Industriekonzernen mit Hungerlöhnen abgespeist wurden, dank der Kredite westlicher Finanzkonzerne ein beachtliches Konsumniveau halten. Dieser schulden?nanzierte Turmbau zu Babel erreichte enorme Dimensionen: Die EU-Geldhäuser haben sich mit insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar (ca. 1150 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzmeer engagiert. Stark exponiert sind Finanzinstitute aus Italien, Frankreich, Schweden, Deutschland und insbesondere Österreich. Letztere haben in Osteuropa beispielsweise Kredite in Höhe von 224 Milliarden Euro vergeben, was in etwa drei Vierteln der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs entspricht.
Vortragstext: Osteuropa - Krise - Regression
Vortragstext: Osteuropa - Krise - Regression
Vortragstext: Osteuropa - Krise - Regression
Dieses Referat habe ich am 30.05.2011 in Göttingen gehalten. Es steht allen Interessierten zur freien Verfügung. Ich möchte eingangs meines Referats knapp dessen Struktur erläutern. Ich habe den Vortrag in zwei Teile gegliedert. Zuerst möchte ich die sozioökonomischen Rahmenbedingungen in Mittelosteuropas umreißen und den Krisenverlauf in der Region schildern. Die knappe Darstellung des Krisenverlaufs soll vor allem einen differenzierten Blick auf diese mittelosteuropäischen Länder ermöglichen, da die Krise hier sehr unterschiedliche Verlaufsformen annahm. Im zweiten Teil werde ich mich bemühen, die wichtigsten politischen und allgemein die sozialen Reaktionen auf das Krisengeschehen in Osteuropa darzulegen. Besonderes Augenmerk wird hier auf den Aufstieg der Rechten in dieser Region gelegt werden, der sich in Wahlerfolgen wie auch zunehmender Militanz gegenüber Minderheiten und politischen Gegnern äußert. Der Schwerpunkt dieses zweiten Teils wird auf der Situation in Ungarn, wie auch auf dem militanten Antiziganismus liegen, der in weiten Teilen Mittelosteuropas inzwischen konsensartigen Charakter angenommen hat. Kommen wir nun zum ersten Teil meiner Ausführungen. Vielleicht sollten wir eingangs noch eine kurze geographische Bestimmung des Gebiets durchführen, dass Thema dieses Referats ist. Wenn ich von Mittelosteuropa spreche, dann meine ich damit die Länder, die in zwei Erweiterungsschüben der Europäischen Union in 2004 und 2007 beitreten konnten. Dieses „Zwischeneuropa“ Erstreckt sich vom Baltikum bis zum schwarzen Meer, es trennt die europäischen Hegemonialmacht Deutschland von der russischen Einflusssphäre, die ja im Westen Belarus und die Ukraine umfasst. Diese Definition von Mittelosteuropa umfasst also die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Slowenien. Es ist ja kein großes Geheimnis, und es ist auch innerhalb der westeuropäischen Linken wohlbekannt, dass dieses Mittelosteuropa nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einer Peripherie des westeuropäischen Zentrums zugerichtet wurde. Hierunter ist in einem umfassenden Sinne die Umformung dieser osteuropäischen Ökonomien entlang der Verwertungsinteressen westeuropäischen Kapitals zu verstehen. Bevor diese ehemals staatssozialistischen Volkswirtschaften der Europäischen Union als scheinbar gleichberechtigte Mitglieder beitreten konnten, wurden sie jeglicher eigenständiger ökonomischer Potenzen beraubt. Dies geschah vermittels einer doppelten Enteignung dieser Volkswirtschaften, die zumeist unter dem Stichwort der Schocktherapie zusammengefasst wird. Zum einen fand bei der Systemtransformation eine Vernichtung der breit verteilten Ersparnisse in Geldform statt. Nach der totalen Preisfreigabe ab 1990 setzte in nahezu allen osteuropäischen Transformationsstaaten eine Hyperin?ation ein. Diese zerstörte einen Großteil der Ersparnisse der Lohnabhängigen, was de facto zu deren Enteignung führte. Im Gefolge dieser Entwertungswelle konnten dann die Währungen der osteuropäischen Länder an den US-Dollar oder die D-Mark gekoppelt werden, was die Grundlage der Investitionstätigkeit westlichen Kapitals in diesen Volkswirtschaften bildete. Neben dieser Enteignung der Lohnabhängigen mittels ausufernder Inflation fand auch eine Enteignungswelle der gesamten industriellen Basis dieser Länder auf volkswirtschaftlicher Ebene statt. Diese zweite Enteignung wurde durch eine schockartige Öffnung der osteuropäischen Binnenmärkte erreicht. Hierdurch konnten die maroden osteuropäschen Unternehmen binnen kürzester Zeit niederkonkurriert werden. Die interessantesten Filetstücke aus der Konkursmasse des Staatssozialismus wurden hingegen vom westlichem Kapital übernommen. Als Beispiele seien hier die tschechischen Skoda-Werke, der polnische Süßwarenhersteller Wedel oder der rumänische Fahrzeughersteller Dacia genannt. Im Endeffekt wurden nahezu alle osteuropäischen Volkswirtschaften eines eigenständigen ökonomischen Rückgrats – also eines im heimischen Besitz be?ndlichen Industriesektors – beraubt. Fast alle wichtigen Unternehmen in nahezu allen osteuropäischen Staaten be?nden sich im Besitz westlicher Industriekonzerne. Es fand also de facto eine Deindustrialisierung dieser Region statt, die mit dem Verlust jeglicher autarken technologischen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten einherging. Stattdessen konnten europäische Konzerne die gesamte Region sukzessive zu einer „verlängerten Werkbank“ umformen. Die noch in der Periode des real existierenden Sozialismus gut ausgebildete Arbeiterschaft, die sich einem massiven Verelendungsschub ausgesetzt sah, war prädestiniert dafür, die arbeitsintensiven Produktionsschritte innerhalb der globalen Fertigungsabläufe westlicher Konzerne für einen Hungerlohn zu übernehmen. Weite Teile Osteuropas verkamen so zu einem Billiglohnstandort. Einerseits konnte also westliches Kapital Osteuropa als Absatzmarkt gewinnen, indem die heimische Konkurrenz noch in der Transformationsphase vernichtet werden konnte, andererseits fungierte die Region als Investitionsstandort, bei dem die besten Betriebe übernommen und arbeitsintensive Produktionsschritte ausgelagert werden konnten. Die enormen sozialen Verwerfungen, die diese Transformationsprogramme mit sich brachte, bildeten einen integralen und beabsichtigten Teil der Zurichtung Osteuropas zur Peripherie. Erst mit zunehmender Verelendung und Massenarbeitslosigkeit konnte diese Regione zu einem Billiglohnstandort westlicher Konzerne degradiert werden. Mit jedem weiteren Verelendungsschub wurde die Verhandlungsposition von Gewerkschaften in der Region sukzessive geschwächt. Krise in Osteuropa, Differenzierung, Defizitkreisläufe Ironischerweise konnte Osteuropa bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine immer wichtigere Rolle als Absatzmarkt spielen – vor allem für die exportfixierte deutsche Industrie. Die Länder Ostmitteleuropas und Osteuropas haben im ersten Halbjahr 2008 für 84 Milliarden Euro deutsche Waren aufgenommen. Diese Region war am Vorabend der Weltwirtschaftskrise somit für die deutsche Exportwirtschaft wichtiger als die USA (59,2 Milliarden Euro) oder China (43,6 Milliarden Euro). Dies muss auf den ersten Blick angesichts der beschriebenen Entwicklung verwundern. Wie konnte eine Region, die zumeist als Billiglohnstandort westlichen Kapitals fungiert, zu einem solch wichtigen Absatzmarkt avancieren? Die Lösung dieses Rätsels liegt im Finanzsektor der osteuropäischen Staaten, der ebenfalls nahezu geschlossen vom westlichen Finanzkapital übernommen wurde. Mit der Zeit gingen die westeuropäischen Finanzhäuser zu einer immer lockereren Kreditvergabepraxis über. Die Konsumenten und Häuslebauer in Osteuropa kamen so immer leichter an Kredite und Hypotheken - dieses Geld floss dann in den Konsum und den Bausektor. Es bildete sich in Osteuropa eine klassische De?zitkonjunktur heraus, bei der das Anhäufen von Defiziten (Krediten oder Hypotheken für Konsum oder Häuserbau) konjunkturbelebend wirkt, da hierdurch ja tatsächlich schulden?nanzierte Nachfrage geschaffen wurde. Dieses ökonomische Perpetuum mobile bewirkte wahre Wunder: Bis zum Zusammenbruch dieser De?zitkonjunktur konnten Lohnabhängige, die von westlichen Industriekonzernen mit Hungerlöhnen abgespeist wurden, dank der Kredite westlicher Finanzkonzerne ein beachtliches Konsumniveau halten. Dieser schulden?nanzierte Turmbau zu Babel erreichte enorme Dimensionen: Die EU-Geldhäuser haben sich mit insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar (ca. 1150 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzmeer engagiert. Stark exponiert sind Finanzinstitute aus Italien, Frankreich, Schweden, Deutschland und insbesondere Österreich. Letztere haben in Osteuropa beispielsweise Kredite in Höhe von 224 Milliarden Euro vergeben, was in etwa drei Vierteln der jährlichen Wirtschaftsleistung Österreichs entspricht.